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bringen würden, so könnte man natürlich sagen, der Brief war
uns zum Nutzen und zur Lehre geschrieben, auf daß wir durch
Geduld und Trost des Briefes Hoffnung haben möchten, das Ver-
sprochene zu erlangen.
Wenn wir nun den Brief deutlich verständen, und wüßten,
was wir zu erwarten hätten, dann würde er und Trost und
Hoffnung gewähren; wenn dagegen in unserem Geiste noch irgend-
ein Zweifel oder eine Ungewißheit wäre, ob wir denselben auch
recht verständen, alsdann könnten wir keinen Gewissen Trost oder
Hoffnung aus dem Geschriebenen erlangen, da wir ja nicht wüßten,
was wir zu hoffen hätten; folglich würde der Brief zu uns gar
keinen Nutzen haben. Und so verhält es sich mit der Schrift.
Keine Prophezeiung oder Verheißung wird dem Leser eher nützen
oder Geduld, Trost oder Hoffnung in seinem Gemüte erzeugen,
bis er sie deutlich versteht, damit er genau wisse, was er zu
hoffen habe.
Die Weissagungen der Propheten sind nun ebenso deutlich zu
verstehen wie der Kalender, der eine Sonnenfinsternis vorher-
sagt, wenn nicht, so ist die Bibel von allen Büchern dasjenige,
dessen Nutzen am ungewissesten ist. Weit besser würde es alsdann
für die Menschen gewesen sein, wenn der große Schöpfer unseres
Daseins seinen gefallenen Kreaturen nichts geoffenbart hätte, als
ein Buch zu offenbaren, welches sie im Zweifel und Ungewißheit
ließe, und miteinander von einem Zeitalter zum andern über die
Bedeutung seines Inhalts zu streiten.
Daß eine solche Ungewißheit und ein solcher Streit während
ganzer Zeitalter gewesen ist, wird niemand leugnen. Die Weisen
und Gelehrten waren stets uneinig, und noch herrscht eine große
Uneinigkeit unter ihnen betreffs einer richtigen Auffassung der
Prophezeiungen. Woher rührt nun diese Meinungsverschieden-
heit? Entweder sind die Offenbarungen selbst mangelhaft oder
die Menschen sind schuld daran. Aber zu sagen, eine Offenbarung
ist selbst mangelhaft, hieße Gott der Torheit zeihen; Gott behüte,
die Menschen müssen Schuld daran sein.
Es gibt zwei große Ursachen für diese Blindheit, welche ich
jetzt angeben werde. Die erste ist: Die Menschen sind der Mei-
nung, daß eine unmittelbare göttliche Eingebung durch den Heiligen
Geist nicht für alle Zeiten der Kirche beabsichtigt war, sondern nur
für die erste Zeit. Da sie die Schrift erfüllt wähnten, alles Nötige
geoffenbart sei und daß der Geist, welcher zu aller Wahrheit