Die Erste Vision



Unter dieser Bezeichnung verstehen die Mitglieder das erste und einschneidende Erlebnis von Joseph Smith, durch das er zum Propheten berufen wurde. Da dieses Ereignis den Ursprung aller mormonischen Gemeinschaften markiert, möchten wir diese Umstände etwas näher betrachten. Es gibt dazu unzählige Betrachtungen und Erwägungen, deshalb sei mit der Version begonnen, die er 1839 diktierte, und die in die offizielle HLT-Kirchengeschichte (History of the Church) einging, und heute in der Köstlichen Perle und zahllosen Traktaten jedweder Sprache zu finden ist:

Die Version von 1839

„ ...Im zweiten Jahr nach unserer Übersiedlung nach Manchester kam es an unserem Wohnort zu einer ungewöhnlichen Erregung über das Thema Religion ...“ Er beschreibt den Streit unter Predigern und Anhängern der Gemeinschaften. „ ...Ich stand damals in meinem fünfzehnten Lebensjahr. Meines Vaters Familie ließ sich für den Glauben der Presbyterianer gewinnen, und ihrer vier schlossen sich dieser Kirche an ... In dieser Zeit großer Erregung hatte ich viel Grund, ernstlich nachzudenken, und ich fühlte mich sehr unbehaglich. Zwar nahm ich lebhaften Anteil und hatte sehr ausgeprägte Gefühle, aber ich hielt mich doch von allen diesen Parteien fern, wenn ich auch ihre Versammlungen besuchte, sooft sich mir die Gelegenheit bot. Im Lauf der Zeit neigte ich den Methodisten zu, und hatte wohl auch den Wunsch, mich ihnen anzuschließen.“ Er fährt mit dem großen Streit fort. „Inmitten dieses Wortkriegs und Tumults der Meinungen sagte ich mir oft: Was ist da zu tun? Welche von allen diesen Parteien hat recht, oder haben sie allesamt unrecht? Und falls irgend eine recht hat – welche ist es, und woran soll ich sie erkennen?“ Er beschreibt, wie er Jakobus 1:5 las und darüber nachdachte. „ ...ich wusste, wenn überhaupt jemand Weisheit von Gott brauchte, so war ich es.“ Er legt seine Unerfahrenheit dar sowie seinen Entschluss, entsprechend dieser Stelle zu verfahren. „Also begab ich mich gemäß diesem meinem Entschluss, Gott zu bitten, in den Wald, um den Versuch zu machen. Es war an einem strahlend schönen Morgen in den ersten Frühlingstagen des Jahres 1820 ... Ich kniete nieder und fing an, Gott meinen Herzenswunsch vorzutragen. Kaum hatte ich das getan, da wurde ich auch schon von einer Gewalt gepackt, die mich gänzlich überwältigte ... – und nicht etwa einem eingebildeten Verderben, sondern der Gewalt eines wirklichen Wesens aus der Welt des Unsichtbaren, das eine so unglaubliche Macht hatte, wie ich sie noch nie bei einem Wesen verspürt hatte –, eben in diesem Augenblick höchster Angst sah ich gerade über meinem Haupt eine Säule aus Licht, heller als die Sonne, allmählich herabkommen, bis es auf mich fiel ... Als das Licht auf mir ruhte, sah ich zwei Gestalten von unbeschreiblicher Helle und Herrlichkeit über mir in der Luft stehen. Eine von ihnen redete mich an, nannte mich beim Namen und sagte, dabei auf die andere deutend: Dies ist mein geliebter Sohn. Ihn höre! ... Ich bekam die Antwort, ich dürfe mich keiner von ihnen anschließen, denn sie seinen alle im Irrtum; und derjenige, der zu mir sprach, sagte, ihre sämtlichen Glaubensbekenntnisse seien in seinen Augen ein Greuel; jene Glaubensbekenner seien alle verderbt, denn ’sie nahen sich mir mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir; sie verkünden Menschengebote als Lehre, sie haben zwar die äußere Form der Frömmigkeit, aber sie leugnen deren Kraft‘. Nochmals verbot er mir, einer von ihnen beizutreten ... Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf dem Rücken liegen, den Blick zum Himmel gerichtet ... Dann sagte ich zu meiner Mutter: ’Ich habe herausgefunden, dass der Presbyterianerglaube nicht richtig ist.‘ ... viel Verfolgung ... obwohl ich nur ein unbekannter Junge von vierzehn, fünfzehn Jahren war ... das hatten alle Glaubensgemeinschaften gemeinsam: Sie alle vereinigten sich, um mich zu verfolgen ...“ Er ergeht sich seitenweise, wie sehr er für diese Vision verfolgt wurde, wie ihm ein Engel erschien und er daraufhin die goldenen Platten fand usw. Genug der offiziellen Ausführung, es wird Zeit für unsere Betrachtung.

Die von Joseph diktierte Version von 1839 war nicht die erste, auch wenn die erste Veröffentlichung dieser Geschichte erst 1840 in Orson Pratts Remarkable Visions erfolgte. Von ihm persönlich diktiert wurden mindestens zwei weitere vorherige Darstellungen, die nicht unwesentlich voneinander abweichen. Die Authentizität dieser beiden Berichte wird heute nicht einmal mehr von mormonischen Apologeten bestritten. Wir wollen sie uns zeitlich rückschreitend erarbeiten.

Die Version von 1835

Im Jahre 1835 wurde Joseph Smith von einem jüdischen Prediger namens Robert Matthias besucht, von dem er wohl so beeindruckt war, dass er ihm die Geschichte von der ersten Vision erzählte. Dieser Besuch wurde in der Kirchengeschichte festgehalten (HC 2:304-307). Der folgende Abschnitt, wie er von Josephs Sekretär Warren A. Cowdery festgehalten wurde, ist dort aber nicht zu finden:

„Montag, 9. November ... Das Gespräch wechselte bald zum Thema Religion, ... danach gab er ihm einen Bericht der Umstände, die mit dem Hervorkommen des Buches Mormon verbunden sind, und etwa wie folgt waren. Mein Geist war aufgewühlt bezüglich des Themas Religion, und ich betrachtete die verschiedenen Systeme, die den Menschenkindern gelehrt wurden. Ich wusste nicht, wer recht und wer unrecht hatte, aber für mich erschien es von höchster Wichtigkeit, dass ich richtig lag in Dingen von so großer Bedeutung, Dingen mit ewigen Auswirkungen. Derart im Geist verwirrt zog ich mich in einen stillen Wald zurück, wo ich mich dem Herrn unterwarf, mit einsichtigem Sinn (wenn die Bibel wahr ist) fragen und du wirst empfangen, klopfe an und es wird dir aufgetan, suche und du wirst finden, und auch, wenn jemandem unter euch an Weisheit mangelt, der bitte Gott, der allen Menschen gern gibt und niemandem einen Vorwurf macht. Information war es, was ich zu dieser Zeit am meisten wünschte, und mit der festen Zuversicht, sie zu bekommen, rief ich den Herrn zum ersten Mal am oben erwähnten Ort an, oder in anderen Worten, ich machte einen nutzlosen Versuch zu beten. Meine Zunge schien in meinem Mund anzuschwellen, so dass ich nicht sprechen konnte, ich hörte ein Geräusch hinter mir, als ob jemand auf mich zugehen würde. Ich versuchte wieder zu beten, aber ich konnte nicht; die Laufgeräusche schienen immer näher zu kommen, ich sprang auf die Füße, schaute mich um, doch ich sah niemanden, bzw. nichts, was diese Laufgeräusche hätte erzeugen können. Ich kniete mich wieder hin, mein Mund wurde geöffnet und meine Zunge gelöst; ich rief den Herrn in mächtigem Gebet an. Eine Säule aus Feuer erschien über meinem Haupt, die bald auf mir ruhte und mich mit unbeschreiblicher Freude erfüllte. Eine Gestalt erschien in der Mitte dieser Flammensäule, die alles herum erfasste und doch nichts verzehrte. Bald erschien eine zweite Gestalt wie schon die erste: Er sagte zu mir, deine Sünden sind dir vergeben. Er bezeugte mir auch, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Ich sah viele Engel in dieser Vision. Ich war etwa 14 Jahre alt, als ich diese erste Mitteilung erhielt ...“

Wichtig sind hier vor allem der Ablauf – zwei nicht identifizierte Gestalten erscheinen nacheinander, dazu viele Engel – und die Botschaft der Vision – Sündenvergebung und die Bestätigung von Jesus Christus.

Die Version von 1832

Joseph war zu diesem Zeitpunkt kein kleiner Junge mehr. Das Buch Mormon wurde längst vertrieben, die Kirche Christi bestand seit zwei Jahren und das beschriebene Ereignis selbst lag bereits zwölf Jahre zurück – viel Zeit also, um sich seiner Bedeutung bewusst zu werden. Dieser Bericht wurde 1965 veröffentlicht, nachdem ihn ein Student kurz zuvor im Kirchenarchiv in Salt Lake City gefunden hatte. Joseph diktierte damals seinem Sekretär Frederick G. Williams in einer ersten Autobiographie folgende Worte:

„ ...Ich schrie zum Herrn um Gnade, denn es gab niemanden anderen, an den ich mich wenden konnte und Gnade erlangen, und der Herr hörte meine Schreie in der Wildnis, und während ich so den Herrn in meinem 16. Lebensjahr anrief, kam von oben eine Säule aus Licht, heller als die Mittagssonne, und ruhte auf mir und ich wurde mit dem Geist Gottes erfüllt und der Herr öffnete mir die Himmel und ich sah den Herrn und er sprach zu mir und sagte: Joseph, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben, gehe deines Weges, wandle in meinem Gesetz und halte meine Gebote. Wahrlich, ich bin der Herr der Herrlichkeit, ich wurde für die Welt gekreuzigt, damit alle, die an meinen Namen glauben, ewiges Leben haben mögen. Siehe, die Welt liegt jetzt in Sünde und nicht einer tut Gutes, sie haben sich vom Evangelium abgewandt und halten meine Gebote nicht, sie nähern sich mir mit ihren Lippen, aber ihre Herzen sind weit von mir und mein Zorn ist gegen die Einwohner der Erde entbrannt, ich werde sie wegen ihrer Gottlosigkeit heimsuchen und das zustande bringen, was ich durch den Mund der Propheten und Apostel gesprochen habe. Wahrlich, ich komme schnell, wie es von mir geschrieben steht, in einer Wolke, umhüllt von der Herrlichkeit meines Vaters. Und meine Seele war mit Liebe erfüllt und viele Tage lang konnte ich mit großer Freude jubeln und der Herr war mit mir. Aber ich konnte niemanden finden, der die himmlische Vision glauben wollte ...“

Der Vergleich

Ein solch gravierendes Ereignis sollte einem Menschen eigentlich fest verhaftet in Erinnerung bleiben. Hier jedoch ist eine Entwicklung nicht zu übersehen:

1832 1835 1839
Josephs Alter 16 Jahre 14 Jahre 14 Jahre
negative Vorwirkungen keine Geräusche; Zungenschwellung; Sprachschwierigkeiten überwältigende Macht eines unsichtbaren Wesens; Zungenlähmung; Finsternis; Vernichtungsgefühl
Erscheinung niemand, Joseph blickt in den Himmel, wo der Herr zu ihm sprach eine Gestalt; danach eine weitere Gestalt, die zu ihm sprach; viele Engel Gott Vater, der Christus identifiziert; gleichzeitig Jesus, der die Botschaft brachte
Botschaft persönliche Vergebung; Mission Christi; Schlechtigkeit und Strafe der Menschen; baldige Wiederkehr persönliche Vergebung; Bestätigung von Jesus Christus Schlechtigkeit der Kirchen, kein Anschluss; vieles andere
positive Nachwirkungen Liebe; große Freude keine erwähnt Wissen um Falschheit der Presbyterianer
negative Nachwirkungen niemand glaubt es keine erwähnt Bewusstlosigkeit; Erschöpfung; große Erregung unter Religionen; heftige Verfolgung

Weitere geschichtliche Hinweise

Bei so vielen Änderungen stellt sich unwillkürlich die Frage: Wie hat sich die Geschichte in den vorangegangenen zwölf Jahren entwickelt? Weiterhin ist fraglich, welche religiöse Erregung Joseph Smith auf das Jahr 1820 datiert. Solche ‘Revivals’ genannten Höhepunkte in der Erweckungsbewegung jener Tage sind in den Jahren 1799, 1808, 1816/17 und 1824-27 geschichtlich belegt. Religiös war 1820 ein sehr ruhiges Jahr im westlichen New York.

Überhaupt gibt es keinen einzigen Bericht, in dem von einer Engelserscheinung von Joseph Smith berichtet wird, der vor 1831 veröffentlicht wurde und sich nicht auf die goldenen Platten bezieht. Auch dort war von Engeln erst später die Rede, aber das gehört nicht in diese Betrachtung. Wichtiger ist, dass Joseph mit dem Buch Mormon und seiner neuen Kirche viel Aufmerksamkeit bekam, andere Kirchen und Zeitungen schrieben über ihn. Aus der Zeit, in der er nach seinen eigenen Worten so viel Verfolgung erleiden musste, lassen sich merkwürdigerweise keine solchen Erwähnungen finden, gerade so, als ob sich niemand für ihn oder seine Visionen interessiert hätte. 1831 schreibt der Palmyra Reflector als Reaktion auf die Kunde aus Kirtland, Joseph habe ’Gott mehrfach und persönlich gesehen‘: „Es ist allgemein bekannt, dass Joe Smith niemals vorgab, irgendwelchen Umgang mit Engeln zu haben, bis lange Zeit nach dem angeblichen Fund seines Buches, und dass die Manipulation durch ihn oder seinen Vater nicht weiter ging als die angebliche Fähigkeit, Wunder in einem Seherstein zu sehen ...“

Interessant ist die Reaktion seiner Familie. Sollte Joseph tatsächlich gesagt haben, die Presbyterianerkirche sei falsch, nahm ihn niemand ernst. Lucy, Hyrum und Samuel blieben dort bis September 1828 aktive Mitglieder, wie aus den Kirchenunterlagen hervorgeht. Er selbst schreibt noch 1832, niemand hätte ihm geglaubt. Und es gibt sogar Hinweise darauf, dass Joseph selbst sich 1828 der Methodistenkirche anschließen wollte.

Seine Mutter Lucy schrieb ihrem Bruder 1831 einen sehr detaillierten Brief über das Buch Mormon und die Gründung der Kirche. Eine erste Vision erwähnt sie darin mit keinem Wort.

1834 schreibt Oliver Cowdery mit Josephs Hilfe für die Kirchenzeitschrift Messenger and Advocate einen Artikel über die zeitige Kirchengeschichte. Joseph entschuldigt sich darin vielfach für seine jugendliche Nachlässigkeit. Über eine erste Vision schreibt Oliver nichts, dafür erwähnt er, die religiöse Erregung habe begonnen, als Joseph 17 Jahre alt war, also 1823, und beginnt entsprechend mit dem Besuch eines Engels (mutmaßlich Moroni) als Josephs erster Erscheinung.

Noch viele Jahre später bringen Familienmitglieder und enge Vertraute die Erscheinungen von erster Vision und Ankündigung des Buches Mormon in Wort und Schrift durcheinander. Das traf selbst auf Josephs Cousin und HLT-Präsident George Albert Smith mehrfach zu.

Die Wertung

Natürlich muss in dieser für hingebungsvolle Mormonen sehr schwerwiegenden Sache jeder eigene Untersuchungen anstellen und selbständig Schlussfolgerungen daraus ziehen. Die hier zusammengestellten Informationen können nur einen ersten Anhaltpunkt darstellen, praktisch einen Appetitanreger, der aufzeigt, dass es keineswegs als das unzweifelhafte historisch faktische Ereignis angesehen werden kann, als das er heute gern ausgegeben wird.

Meine eigene Auswertung führte mich zu der für mich sehr bitteren Schlussfolgerung, dass ein derartiges Ereignis überhaupt nicht stattgefunden hat. Gleichzeitig erkannte ich in der Entwicklung der Erzählung aber auch Parallelen zu denen persönlicher Gotteserfahrungen christlicher Berichterstatter, und in dieser Kategorie unterfällt sie einer für mich faszinierenden Durchschnittlichkeit. Dennoch weist alles darauf hin, dass die Geschichte mit goldenen Platten ihren Anfang nahm. Die Hinweise darauf können nicht ignoriert werden.


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